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Swiss Platform Ageing Society
Eine Dekade für besseres Altern – aber wissen wir wirklich, worum es geht?
Die von der der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufene «Dekade des gesunden Alterns (2021–2030)» ist inzwischen auf halber Strecke. Ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen: Was wurde erreicht, wo bestehen noch Herausforderungen, und wie geht es weiter?
Es ist auch der Moment, um sich die Frage zu stellen: Wie gut kennen wir überhaupt diese globale Initiative mit ihrer Zielsetzung, durch kollektives Handeln die Lebensbedingungen älterer Menschen konkret und nachhaltig zu verbessern? Was bedeutet eigentlich «gesundes Altern» – und wie steht es um die Schweiz in diesem Zusammenhang? Wir haben Hans Peter Graf einige Fragen gestellt, um das besser zu verstehen.
Dies ist eine gekürzte Version des Interviews. Den vollständigen Text finden Sie auf der Webseite der FAAG. Das Interview wurde schriftlich geführt.
Interview I Emilie Casale, Romaine Farquet

Hans Peter Graf, Dr. sc. pol., im Unruhestand, Mitglied des Stiftungsrats der FAAG (Fondation pour la formation des aînées et des aînés de Genève), von VASOS, GERONTOLOGIE CH, des NGO Committee on Ageing Geneva sowie weiterer Verbände
Worum geht es bei der «UN-Dekade des gesunden Alterns» der WHO und welche Hauptziele verfolgt diese?
Mit dieser Dekade (2021–2030) bestrebt die WHO (aus dem Französischen übersetzt):
«die Gelegenheit, über zehn Jahre hinweg, alle relevanten Akteure (Regierungen, Zivilgesellschaft, internationale Organisationen, Fachleute, Wissenschaft, Medien und Privatsektor) zusammenzubringen. Das Ziel ist es, durch Koordination und gemeinsames, nachhaltiges Wirken einen Wandel auszulösen, der die Lebensqualität älterer Menschen, ihrer Familien und ihrer Gemeinschaften verbessert». Quelle: WHO
In diesem Sinne fordert die Dekade, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dem Vorhaben zuträglich sind. Sie postuliert auch, dass die Rolle der Alternden in der Gesellschaft neu definiert und aufgewertet wird, angefangen mit einem neuen Selbstbild.
Dafür sollen wir in vier Handlungsfeldern aktiv werden:
Veränderung der Denk-, Sicht- und Handlungsweisen in Bezug auf Alter und Altern.
Entwicklung von Gemeinschaften, welche die Fähigkeiten älterer Menschen fördern.
Bereitstellen von altersgerechten, integrierten und personenzentrierten Angeboten und Leistungen der primären Gesundheitsversorgung.
Schaffen von Angeboten der Langzeitpflege für hilfsbedürftige ältere Menschen.
Aus Sicht der WHO können diese Ziele nur erreicht werden, wenn man von einem Verständnis gesunden Alterns, das sich durch Abwesenheit von Krankheit definiert, zu einer Betrachtungsweise übergeht, die sich durch die Förderung funktionaler Fähigkeiten auszeichnet. Letztere sollen es älteren Menschen ermöglichen, so zu sein und das zu tun, was ihnen wichtig ist, und somit ein als sinnvoll erachtetes Leben zu führen.
Um dies zu erreichen, empfiehlt die WHO sektorübergreifende Kooperationsplattformen zu bilden, die einen Paradigmenwechsel in unserem Umgang mit Alter(n) auslösen und die die Akteure von allen relevanten Handlungsfeldern einbeziehen: Gesundheit, Finanzen, Langzeitpflege, soziale Sicherung, Bildung, Arbeit, Wohnen, Verkehr, Information und Kommunikation. Eine solche Vorgehensweise soll Regierungen, Zivilgesellschaft, Fachkräfte, Wissenschaftler·innen, Medien, Privatsektor sowie ältere Menschen und ihre Verbände zusammenbringen.
Der Begriff «gesundes Altern» umfasst nicht nur soziale und umfeldbezogene Aspekte, sondern auch individuelle Fähigkeiten. Was versteht die WHO-Dekade darunter?
Für die WHO bestimmen drei Faktoren die zur Alltagsbewältigung erforderlichen funktionalen Fähigkeiten einer Person. Erstens, ihr Leistungsvermögen (d.h. die Gesamtheit ihres körperlichen und geistigen Potenzials). Zweitens, das Umfeld, in dem sie lebt (im weitesten Sinne verstanden und einschliesslich der physischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen). Und drittens, ihre Interaktionen mit diesem Umfeld.
Dank ihrer funktionalen Fähigkeiten können alternde Menschen weiterhin selbstbestimmt in zufriedenstellender Gesundheit leben und ihre Entscheidungsfreiheit (Autonomie), Identität sowie Motivation bewahren.
Dies erfordert gemäss WHO Massnahmen, die ein gesundes Altern fördern und auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Bereichen koordiniert werden. Dazu gehören Krankheitsprävention, Gesundheitsförderung, Erhalt des Leistungsvermögens sowie Stärkung der funktionalen Fähigkeiten. Aber auch Massnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und zur Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen.
Wie beteiligt sich die Schweiz an dieser weltweiten Initiative? Welche Programme oder politischen Massnahmen orientieren sich an den Zielen der Dekade?
Bedauerlicherweise sind in der Schweiz die Dekade für gesundes Altern und der von ihr propagierte Paradigmenwechsel noch weitgehend unbekannt. Oder sie wird gar ignoriert.
Nur eine Handvoll in der Altersszene aktive Personen haben Artikel über die Initiative veröffentlicht, die in den Medien praktisch nicht beachtet und von den Behörden nur selten erwähnt werden, abgesehen von einer Reihe Veröffentlichungen des Bundes, welche sich kurz auf die Initiative beziehen.
Allerdings ist die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020-2030 auf den Dezember 2019 datiert, was vor dem Start der Dekade liegt. Zudem entfallen viele Massnahmen in der Schweiz auf die vier Handlungsfelder der Dekade, ohne sich ausdrücklich darauf zu beziehen. Dies gilt insbesondere für:
Handlungsfeld 3: Bereitstellen von altersgerechten, integrierten und personenzentrierten Angeboten und Leistungen der primären Gesundheitsversorgung.
Handlungsfeld 4: Schaffen von Angeboten der Langzeitpflege für hilfsbedürftige ältere Menschen.
Einschränkend ist hier zu erwähnen, dass diese beiden Handlungsfelder zur traditionellen Schweizer Alterspolitiken gehören.
Welches sind die grössten Herausforderungen für die Schweiz, um gesundes Altern zu fördern?
Bund, Kantone, Gemeinden, Verbände und parastaatliche Institutionen unternehmen bereits einiges für ein gesundes Altern, insbesondere durch Massnahmen zur Gesundheitsförderung, Prävention und durch die Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung.
Doch die Dekade mit ihrem partizipativen Ansatz eröffnet eine hervorragende Gelegenheit, um den Platz und das Bild alternder Menschen in der Gesellschaft zu verändern, die ja allzu oft immer noch auf ihre Verletzlichkeit reduziert werden.
Die Herausforderung besteht darin Alterspolitik nicht weiterhin wie bisher nur auf den – unbestritten legitimen und notwendigen - Ausgleich gesundheitlicher und sozialer Defizite einzuschränken, die in den Handlungsfeldern 3 und 4 der Dekade aufgeführt werden. Es geht vielmehr darum die heutige Rolle des Staates als reinen Leistungsanbieter zu ergänzen. Der Staat soll auch die Rolle eines Orchesterdirigenten übernehmen und eine mit allen relevanten Spielern abgestimmte Neuinterpretation, wie mit dem Alter(n) umzugehen, inszenieren.
Damit können wir dazu beitragen alternde Menschen als wertvolle Ressource anzuerkennen, um die Herausforderungen, die mit der Langlebigkeit und dem demografischen Wandel einhergehen, zu meistern und die sich bietenden Chancen zu nutzen.
Welche Entwicklungen oder Ergebnisse sollte die Schweiz bis 2030 erreicht haben, damit die Dekade als Erfolg gilt?
In ihrem Bericht über den Fortschritt der Dekade von 2023 hat die WHO zehn nationale Fortschrittsindikatoren festgelegt, um die Umsetzung ihrer Initiative zu messen: Existenz
…einer zentralen Anlaufstelle für Altern und Gesundheit;
…einer nationalen Politik, einer Strategie und eines Plans für gesundes Altern;
…eines nationalen Multi-Stakeholder-Forums oder eines Ausschusses für Altern und Gesundheit;
…einer nationalen Gesetzgebung und Durchsetzung von Strategien gegen altersbedingte Diskriminierung;
…von Gesetzen oder Vorschriften, die sicherstellen, dass ältere Menschen Zugang zu Hilfsmitteln haben;
…eines nationalen Programms zur Unterstützung der Aktivitäten des Globalen WHO-Netzwerks für altersfreundliche Städte und Gemeinden;
…einer nationalen Politik zur Unterstützung von umfassenden Bewertungen der Gesundheits- und Sozialfürsorgebedürfnisse älterer Menschen;
…einer nationalen Politik zur Unterstützung der Langzeitpflege älterer Menschen;
… repräsentativer Bevölkerungsstudien mit Querschnittsdaten über den Gesundheitszustand und die Bedürfnisse älterer Menschen auf nationaler Ebene;
…repräsentativer Bevölkerungsstudien, die Längsschnittdaten über den Gesundheitszustand und die Bedürfnisse älterer Menschen in der Schweiz liefern.
Es bleibt zu hoffen, dass der Bundesrat die notwendigen Massnahmen ergreift und umsetzt, um bis zum Jahr 2030 substanzielle Fortschritte bei allen zehn Indikatoren vorweisen zu können. Besonders wichtig ist das in den Bereichen, die von den innovativen Handlungsfeldern 1 (Alter(n)sbild) und 2 (Alter(n) förderliches Umfeld) der Dekade postuliert werden.