Blog
Swiss Platform Ageing Society
Altersdiskriminierung sichtbar machen – Wege zu einem neuen Verständnis des Alterns
Altersdiskriminierung betrifft uns alle – direkt oder indirekt. Sie äussert sich nicht nur in offener Benachteiligung, sondern häufig in subtilen, institutionell verankerten Formen.
Christina Röcke vom Healthy Longevity Center der Universität Zürich erklärt im Gespräch, weshalb der politische Diskurs noch immer stark von defizitorientierten Altersbildern geprägt ist, welche Folgen das für die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen hat und wie eine zukunfts-orientierte Altersstrategie diesem Trend entgegenwirken kann.
Interview I Emilie Casale, Romaine Farquet

Christina Röcke ist Psychologin und Co-Direktorin des Healthy Longevity Centers der Universität Zürich. Sie engagiert sich in mehreren nationalen Gremien, unter anderem als Mitglied des Vorstands von Gerontologie CH, im wissenschaftlichen Beirat des Vereins «Connect!» sowie als Mitglied der Begleitgruppen der Altersstrategie der Stadt Zürich und des kantonalen Aktionsprogramms «Gesundheit im Alter». Zudem unterstützt sie die Citizen-Science-Initiative «ältertätig».
Wie würden Sie Altersdiskriminierung definieren und wie zeigt sie sich im Alltag älterer Menschen?
Altersdiskriminierung schliesst Verhalten ein, welches Menschen entgegengebracht wird allein aufgrund ihres Lebensalters – in der Regel meint man damit negatives, benachteiligendes Verhalten.
Altersdiskriminierung kann sich im Alltag darin zeigen, dass jemand nicht ernst genommen oder sogar explizit als in einem bestimmten Bereich weniger kompetent beschrieben und angesprochen wird – einfach aufgrund des wahrgenommenen oder tatsächlichen Alters dieser Person. Kommt jemand an einem Fahrscheinautomaten nicht klar, nimmt man bei einer jüngeren Person eher an, dass sie vielleicht etwas «durch den Wind ist» oder nicht ganz konzentriert in dem Moment. Bei einer älteren Person tendieren wir eher dazu, in einer solchen Situation zu schliessen, dass die Person wahrscheinlich einfach ganz generell mit Technik und Digitalisierung nicht klar kommt und vielleicht sogar schon dement wird.
Welche Folgen hat Altersdiskriminierung für ältere Menschen, wenn es um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht?
Wie sicherlich zu erwarten ist, kann sich Altersdiskriminierung auf vielfältige Weise negativ auswirken. Da eine Benachteiligung per definitionem im Vordergrund steht, sei es im Sinne von Informationen, die eine Person nicht erhält, oder dem Zugang zu bestimmten Services, Angeboten und Aktivitäten, wird die soziale und gesellschaftliche Teilhabe oft eingeschränkt.
Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann verhindert oder erschwert werden, wenn es in einer Gemeinde keine geeignete Infrastruktur gibt, um Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, worunter unter anderem auch einige ältere Menschen fallen können, dabei zu unterstützen, trotzdem von A nach B zu kommen. Eine Teilhabe kann auch dadurch erschwert werden, dass gesundheitliche Einschränkungen als «in diesem Alter ganz normal» angesehen werden und aus diesem Grund nicht als behandlungswürdig gelten.
Viele Formen von Altersdiskriminierung sind subtil und institutionell verankert. Wo sehen Sie die grössten blinden Flecken im politischen Diskurs und in der öffentlichen Wahrnehmung?
Ein zentraler blinder Fleck liegt darin, dass das Altern häufig noch einseitig biologisch-medizinisch betrachtet wird. Dadurch verengt sich der Blick auf Verluste, obwohl Altern ein komplexer, multidimensionaler Prozess ist.
Die Forschung zeigt seit Langem, dass Ressourcen und Kompetenzen im Alter sehr unterschiedlich verlaufen. Dennoch dominiert im politischen Diskurs die Sicht auf ältere Menschen als homogene Kostenfaktoren. Es braucht daher einen Perspektivenwechsel, der den gesellschaftlichen Beitrag älterer Menschen sichtbar macht und Altersdiskriminierung als strukturelles Thema anerkennt.
Im Projekt «Jedes Alter zählt» des UZH Healthy Longevity Center rücken dominante Altersbilder in den Fokus. Welche Vorstellungen vom Alter begegnen Ihnen besonders häufig in der Gesellschaft?
Altersbilder sind sehr unterschiedlich, aber häufig von Defiziten geprägt – insbesondere im Bereich der kognitiven Fähigkeiten. Gleichzeitig begegnen uns stereotype Zuschreibungen wie «weise, aber mürrisch». Solche ambivalenten Bilder verbinden Kompetenzverluste einerseits mit zwischenmenschlicher Wärme als Persönlichkeitsmerkmal und prägen, wie ältere Menschen wahrgenommen werden.
Im Projekt «Jedes Alter zählt» erforschen wir diese Vorstellungen gemeinsam mit älteren Menschen, um Diskriminierung sichtbar zu machen und Gegenstrategien zu entwickeln. Oft zeigt sich im Austausch, dass viele ihre eigenen Vorurteile hinterfragen, sobald sie an konkrete Personen denken.
Die WHO fordert im Rahmen der Dekade des gesunden Alterns, Altersdiskriminierung systematisch zu bekämpfen. Was müsste eine neue Altersstrategie Ihrer Meinung nach tun, um dieser Herausforderung auf struktureller Ebene zu begegnen?
Eine zukunftsorientierte Altersstrategie muss ein ressourcenorientiertes Bild des Alterns fördern und breit kommunizieren. Öffentliche Räume, Bildung, Wohnen und Pflege sollten regelmässig auf Barrieren geprüft werden.
Altersdiskriminierung kann verringert werden, wenn Wissen über die Vielfalt des Alterns gestärkt und der Austausch zwischen Generationen strukturell unterstützt wird – etwa durch gemeinschaftliche Wohnformen oder Lernangebote.
Zentral ist zudem, Alter als eigenständige Kategorie von Diskriminierung anzuerkennen und entsprechende Forschung zu fördern (auch gemeinsam mit einem Blick auf Intersektionalität, das heisst die Diskriminierung aufgrund multipler Personenmerkmale zusätzlich zum Lebensalter). Auch scheinbar harmlose Praktiken – wie die Vermarktung von «Anti-Aging»-Produkten – sollten kritisch hinterfragt werden.